Ausbildung

Systemische Hörtherapie

Die Systemische Hörtherapie (SHT) ist vor allem eine auditive Behandlungsmethode. Sie erfasst und optimiert vielfältige Prozesse des Hörsinns in Körper und Psyche. Sie fördert den Menschen in seinen selbst organisierenden, kreativen und kommunikativen Möglichkeiten. Zu folgenden Stichworten finden sie im weiteren Ausführungen:

Systemisch

Menschliche Entwicklung entfaltet sich in Beziehungen. Verschiedene Sinnessysteme nehmen die aus dem Körperinnern und aus der Außenwelt kommenden Informationen wahr und verknüpfen sie. In diesem Verarbeitungsprozess entsteht eine neue Einheit, eine subjektive Realität. Das, was als Person erscheint, ist das Ergebnis unendlich vieler kommunikativer Interaktionen. Unter guten Bedingungen entsteht eine integrative Struktur, sowohl intrapsychisch als auch interpersonal: ein Mensch mit Selbstwertgefühl, der mit anderen befriedigend und anregend in Beziehung treten kann.

Hören

Im Konzert der verschiedenen Sinne und Subsysteme des Menschen legt die Systemische Hörtherapie ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung des Hörens. Das auf Kommunikation angelegte Hören hat im menschlichen Werdeprozess eine besondere Stellung. Schon im vorgeburtlichen Leben formen Klang und Rhythmus unsere Entwicklung. Im Klangraum Mutterleib erlebt das Kind die mütterlichen Geräusche. In besonderer Weise tritt dabei die Stimme der Mutter in den Vordergrund. Sie weckt Aufmerksamkeit und Interesse. Sie sensibilisiert für Sprache und weckt die Lust auf menschliche Kommunikation. 

Hinzu kommt, dass das Ohr als Gleichgewichts- und Hörorgan zwei Sinne miteinander vereint. Es wirkt sowohl als nach außen gerichteter, wie auch nach innen gerichteter Sinn. Der Gleichgewichtssinn organisiert den Körper in der Bewegung.  Auch der Hörsinn ermöglicht die Eigenwahrnehmung des Körpers, denn hörend erleben wir unsere Stimme. Wir entdecken und gestalten auf diese Weise unsere kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten. Über das Hören erfassen wir aber auch den Außenraum. So erweitert der Hörsinn das Körperschema um das Raumschema und schafft Lust, Informationen von dort aufzunehmen, mit anderen Menschen zu kommunizieren.

Therapie als Entwicklungsbegleitung

Wenn der Hörsinn so sehr Kommunikation ermöglicht, dann ist Kommunikation auch ein entscheidender Faktor in der Hörtherapie. Der erste und wichtigste Schritt ist die gelingende Kontakt- und Beziehungsaufnahme zum Kind, den Eltern oder dem Erwachsenen. Der zweite Schritt liegt in dem Erkennen der individuellen Stärken und Schwächen, wobei von Anfang an das Augenmerk auf die vorhandenen Ressourcen liegt. Therapie ist eine Entdeckungsreise zu den inneren Schätzen, dem Entwicklungspotential, um daraus das Leben kreativ und selbstbewusst zu gestalten. Diese Entwicklungsreise  wird in der Systemischen Hörtherapie besonders gefördert und unterstützt durch Hören speziell ausgesuchter und bearbeiteter Musik, aktiven Übungen und ausführlichen Gesprächen.

Therapeutisches Selbstverständnis

Die Therapeutin* wird, indem sie sich auf den Klienten oder die Patientin bezieht, in deren Beziehungswelt einbezogen. Sie ist in der Lage, zum Klienten in Resonanz zu treten. Zugleich ist sie es, die das Geschehen reflektiert und spiegelt. 

Um als Therapeuten* mit unserem Körper und unserer Psyche zum Instrument zu werden, das im Kontakt mit anderen in Resonanz oder auch Dissonanz schwingt, brauchen wir ein hohes Maß an Selbsterkenntnis sowie die Fähigkeit zur kritischen Selbstbeobachtung im Therapieprozess. Daher ist die Selbsterfahrung in der Hörtherapie eine Voraussetzung für die Ausbildung zum Systemischen Hörtherapeuten. Regelmäßige Supervisionen unterstützen später die professionelle Arbeit mit den Klienten. 

* Aus Gründen der Gleichberechtigung und der besseren Lesbarkeit wählen wir mal die eine oder andere Geschlechterform.

Multiperspektivität

Im Verständnis der Phänomene des Lebens ist für uns das "erweiterte Bio-Psycho-Soziale Modell" von Bedeutung. Die Reflexion der eigenen Arbeit und der Austausch mit anderen Systemen sind deshalb Teil der Systemischen Hörtherapie. Das Phänomen Hören betrachten wir aus der Perspektive verschiedenster Disziplinen.

  • Für unser Verständnis des Hörens sind uns die Erkenntnisse der modernen Neurobiologie besonders bedeutsam. Grundlegend erscheinen uns die Einsichten des amerikanischen Neurowissenschaftlers Stephen Porges mit seiner Polyvagaltheorie.  Stephen Porges ist der erste allgemein anerkannte Wissenschaftler, der die von vielen Jahren von D. A. Tomatis aufgestellten Hypothesen  in Bezug auf die Funktion des Mittelohres explizit bestätigt. Stephen Porges bindet die Regulation des Hörens in das Autonome Nervensystem ein. Weiterhin beziehen wir uns auf die Konzepte von G. Hüther, A. Damasio, J. Bauer, W. Singer, M. Spitzer.
  • Der Systemischen Hörtherapie liegen die Gedanken der Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie zugrunde. Besondere Bedeutung hat die moderne Säuglingsforschung (D. Stern, M. Papousek, M. Dornes) und die sensorische Integration (J. Ayres, I. Flehmig).
  • Weiterhin beziehen wir uns auf das Verständnis der Eltern-Kind-Kommunikation und deren therapeutische Begleitung in der Emotionllen Ersten Hilfe (EEH), Th. Harms.
  • Auf audiologischer und psychoakustischer Ebene verwenden wir den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand von Anatomie und Physiologie des Hörens und der zentralen Hörverarbeitung: H.P. Zenner, H.P. Hesse, E. Lehnhardt, M. Spitzer.
  • Die Systemische Hörtherapie bezieht sich sowohl auf Erkenntnisse der Tiefenpsychologie, wie sie von C.G. Jung, D.W. Winnicott, J. Bowlby beschrieben und verstanden wurde als auch der humanistischen Psychologie (C. Rogers, V. Satir, St. Grof).
  • Die Ansätze der Systemtheorie (G. Schiepek, H. von Foerster) und des Konstruktivismus (F.J. Varela, P. Watzlawick) sind in der Systemischen Hörtherapie aufgenommen.
  • Auch der gesellschaftliche Entwurf des Soziologen Hartmut Rosa mit den Stichworten "Resonanz", "Beschleunigung" und "Unverfügbarkeit" ist für uns bedeutsam.
  • Einbezogen werden auch die Kunsttherapie (E. Wellendorf, G. Schmeer), Erkenntnisse der Traumatherapie (L. Reddemann, Peter Levine) und der Pränatalpsychologie (L. Janus).
  • Auch philosophische und spirituelle Aspekte spielen in unserem Menschen- und Weltbild eine Rolle. Der Respekt vor der individuellen Lebensgestaltung eines jeden einzelnen Menschen ist grundlegend. Seine Unabhängigkeit ist zu achten und zu schützen.

Entstehung der Systemischen Hörtherapie

Die Systemische Hörtherapie ist eine Weiterentwicklung der von Dr. A. Tomatis in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschaffenen Hörtherapie. Dr. A. Tomatis hatte schon in den fünfziger Jahren das Hören mit kybernetischen Denkmodellen untersucht. Dabei konnte er als erster den Zusammenhang von Hören und Stimmklang (heute als audiovokale Schleife bekannt) wissenschaftlich nachweisen. Eine weitere wissenschaftliche Pionierleistung war die Entdeckung und Erforschung des vorgeburtlichen Hörens. Dr. A. Tomatis hat seinen Forschungsansatz »Audio-Psycho-Phonologie« genannt. Damit war der Zusammenhang von Hören, psychischer Verarbeitung und Kommunikation bezeichnet. Die Erfahrungen, die in den vergangenen Jahren mit dieser Methode gewonnen wurden und neue wissenschaftliche Erkenntnisse, sind in das Konzept der Systemischen Hörtherapie eingeflossen.

Die wesentlichen technischen Apparate und methodischen Verfahren für die Tomatis-Therapie wurden vor ca. 40 Jahren entwickelt. Charakteristische Aspekte dieser Behandlungsmethode sind:

  • eine intensive und individuell angepasste Klangstimulation des Hörsinnes in einem methodisch begründeten Verfahren
  • die simultane Übertragung der Musik über Luft- und Knochenleitung
  • die Verwendung speziell ausgesuchter Musik: sinfonische und konzertante Werke von W.A. Mozart, gregorianische Gesänge und ggf. eine Aufzeichnung der Stimme der eigenen Mutter
  • Diese Musik wird mit speziellen elektronisch gesteuerten Verstärker- und Filtersystemen bearbeitet. Hier sind besonders die Klangwippe und die Methode der Hochpassfilterung zu nennen.

Das ursprüngliche Konzept von Dr. A. Tomatis wurde in der Systemischen Hörtherapie weiterentwickelt und bereichert:

  • Neue diagnostische Verfahren ergänzen und verfeinern die von Dr. A. Tomatis entwickelte Diagnostik.
  • Zielsetzung, methodisches Vorgehen und auch die Einbindung der Systemischen Hörtherapie in ein ganzheitliches therapeutisches Konzept sind von neuen neurobiologischen und neuropsychologischen Forschungsergebnissen geprägt.
  • Der therapeutischen Beziehung zwischen Klient und Therapeut wird ein hoher Wert beigemessen.
  • Die technischen Apparaturen sind bezüglich der klanglichen Eigenschaften und der Bearbeitungsmöglichkeiten optimiert worden. Die neue digitale Technik schafft für die Therapie eine Fülle neuer Möglichkeiten für ein differenziertes Arbeiten.
  • Neue Klangmedien wurden auf hohem künstlerischen und technischen Niveau produziert. Ihr energiereiches und dynamisches Obertonspektrum reicht bis teilweise über 21 kHz.

Das Konzept der Systemischen Hörtherapie ist nicht endgültig, sondern offen für Wachstum und Entwicklung, um so neue Ideen und Erkenntnisse aufzunehmen und zu vernetzen.